Abenteuer Kurdistan - Blog
Das einzige, was mir vor meiner Reise nach Kurdistan im Nordirak von Freunden und Kollegen eingetrichtert wurde, war: „Sprich kein Arabisch!”. Bei der Ankunft im Hotel, schlaftrunken und desorientiert, bedanke ich mich prompt mit dem arabischen „schukran“ bei dem Hotelier und beiße mir gleich auf die Zunge.
Die Kurden seien ein stolzes Volk, wurde mir gesagt. Für sie ist ihre Landessprache, Kurdisch, eine politische Aussage. Die meisten Kurden im Irak können zwar Arabisch, doch aus Prinzip sprechen sie es aber nicht. Für manche ist es sogar ein Affront, wenn man sie mit der Sprache ihrer langjährigen und repressiven Herrscher anspricht.
Das ist verständlich: Verstreut über den Irak, Syrien, die Türkei und den Iran kämpfen die Kurden seit Jahrzehenten für ihre Unabhängigkeit. Weltweit sind sie die größte Minderheit, die keinen eigenen Staat besitzt. Im Irak wurden sie lange unter Saddam Hussein unterdrückt, bis sie 1991 endlich eine autonome Region in den nördlichen Provinzen des Iraks gründen konnten. Doch noch immer wird ihnen die volle Unabhängigkeit verwehrt und die Kurden müssen unter anderem weiterhin die verhasste irakische Staatsbürgerschaft tragen.
Erbil, die Hauptstadt Kurdistans, ist eine merkwürdige Mischung aus kurdischer Kultur und arabischem Einfluss. Die breiten Straßen der Stadt sind übersät mit kleinen Coffeeshops. Vorbeirauschende Autofahrer kaufen hier, wie auch in Amman – der Hauptstadt Jordaniens – starken arabischen Kaffee. Doch die willkürliche, DDR-artige Architektur der Gebäude verrät, wie jung der kurdische Staat ist. Dagegen strahlt sogar Amman, von dessen römischem Stadtkern nur noch Überreste vorhanden sind, mit seinen Kalksteinfassaden einen antiken Charme aus. Und die ordentlichen, blitzweißen Fahrbahnmarkierungen in Erbil, an die sich sogar die Taxifahrer halten, sind erst recht unarabisch.
Aus Jordanien bin ich prächtige Kopftücher gewöhnt, die auf dem Hinterkopf der Frauen aufgetürmt sind und das Gesicht oft in einen aus mehreren Stoffschichten bestehenden Kokon hüllen. Die Kurden nehmen das ganze viel entspannter: Das Kopftuch sitzt bei den meisten Frauen locker auf dem Hinterkopf, ihre Haare schauen vorne keck heraus. Viele legen sich auch einfach nur ein halbdursichtiges, mit Pailletten besticktes Tuch über den Kopf. Es ist erfrischend zu sehen, dass die islamische Tradition hier eher der Symbolik als der eigentlichen Verhüllung dient.
Was sich in Jordanien mehr im Hintergrund, in Kurdistan aber in aller Öffentlichkeit abspielt, sind die Sicherheitsvorkehrungen. In alle Himmelsrichtungen ist die Region durch das Militär geschützt. Auf der Fahrt von Erbil in die nördliche Provinzhauptstadt Dahuk kommen wir an vier Checkpoints vorbei, an denen die Pässe und UN-Ausweise von uns allen unter dem strengen Blick kurdischer Soldaten geprüft werden. Und auf der Straße zum Flughafen bildet sich eine kilometerlange Schlange, da jedes Auto einzeln mit Spürhunden durchsucht wird.
Während vor den Toren Kurdistans Gewalt wütet, hat sich die Region durch diese Sicherheitsvorkehrungen weitestgehend von dem sektiererischen Konflikt im Irak abgeschottet. Seit 2005 gab es in Kurdistan nur einen Bombenanschlag – und dieser sei lächerlich gewesen, erklärt mir ein jordanisch-kurdischer Freund, da es die Selbstmordattentäter noch nicht einmal ins Hauptgebäude des kurdischen Geheimdienstes in Erbil geschafft hätten.
Kurdistan ist daher heute eine Oase der Ruhe inmitten der stürmischen See: Seit dem Ausbruch des Irakkrieges ziehen immer mehr Iraker aus Bagdad, Basra, Mosul, Anbar und anderen von dem Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten betroffenen Gegenden nach Erbil. Hier gibt es Öl, Jobs und vor allem Sicherheit. Eine junge Mitarbeitern der International Organisation für Migration (IOM), die uns in Kurdistan begleitet hat – kaum älter als ich –, erzählt mir, dass sie Bagdad verlassen habe, nachdem ihr Bruder ermordet und ihre Schwester entführt worden seien. Von wem und warum, frage ich sie nicht, doch es ist klar: Erbil ist ihr Zufluchtsort.
Vor allem aber gewehrt Kurdistan tausenden syrischen Flüchtlinge im Irak Schutz. Unbeachtet von der Weltöffentlichkeit, deren Augenmerk sich auf den Syrienkonflikt und hauptsächlich die Flüchtlingssituation in Jordanien richtet, flohen auch rund 220,000 Syrer gen Osten. Die meisten davon sind syrische Kurden und leben hauptsächlich in einem der 9 Camps in Kurdistan. Im Rest des Iraks gibt es keine syrischen Flüchtlingslager, da die schiitische Regierung von Premierminister Maliki, die hinter den Kulissen al-Assads Regime in Syrien unterstützt, den Bau von Flüchtlingslagern nicht zulässt.
Die Solidarität untereinander spiele bei den Kurden eine große Rolle, erklärt mir eine kurdische Mitarbeiterin von IOM. Anders als die syrischen Flüchtlinge in Jordanien, im Libanon oder der Türkei würden die Syrer hier als Brüder willkommen geheißen. Ob das so stimmt, weiß ich nicht, aber aus meinen Besuchen in vier Flüchtlingslagern in Kurdistan wird mir klar: hier spielen die nationalen Grenzen Syriens oder des Iraks keine Rolle. In den Camps existiert nur Kurdistan.
Während der Feierlichkeiten zum Internationalen Frauentag wird in den Flüchtlingslagern Darashakran und Basirma außerhalb Erbils stolz die kurdische Flagge gehisst (die ich später auf den Fotos für IOM natürlich nirgendwo zeigen darf – man möchte ja nicht die Regierung des Iraks oder andere Geldgeber verärgern). Kleine Kinder in bunten, traditionell-kurdischen Kostümen klatschen und wedeln mit Fahnen, Mädchen führen kurdische Tänze auf und singen Lieder über die Märtyrer der kurdischen Revolution.
Und trotzdem ist die Realität unumgänglich: Der Krieg in Syrien hat sie in ein Land vertrieben, das nicht das ihre ist. In Domiz, dem mit über 58,000 Menschen größten Camp in Kurdistan, sehe ich soweit das Auge reicht weiße Zelte der UNO-Flüchtlingsorganisation UNHCR. Manche Familien nutzen die Zeltschnüre, um ihre Wäsche zum Trocknen aufzuhängen, andere haben ihr Zelt mit Hilfe von Stoffplanen erweitert – Versuche, im Exil ein normales Leben zu führen.
Für Kawa und Sofiyah, ein Ehepaar mit drei Kindern aus dem Nordosten Syriens, ist ihr Zelt ihr ganzer Stolz. Sie bitten uns herein und bringen uns auf einem kleinen Tablett Tee – ein so wichtiger Bestandteil der muslimischen Kultur – egal, wie viel oder wenig ein Mensch selbst besitzen mag. Sofiyah hat das Zelt sorgfältig hergerichtet: Mit Metallstangen hat sie die Konstruktion verstärkt und mit Extraplanen gegen die Winterkälte isoliert. Ein bunter Teppich ziert den Boden und rund um den Teppich sind Kissen verteilt, auf denen man, wie in vielen Wohnzimmern Jordaniens, mit seinen Gästen sitzt. Eine Plastikblume wurde als Dekoration an die Wand gehängt, ein buntes Tuch bedeckt den Stolz der Familie - den Fernseher. Die UNHCR-Zeltplane, die ursprünglich das Zelt ausmachte, wurde nur benutzt, um den Betonsockel der Konstruktion zu verdecken.
Am meisten vermisse sie ihr Haus in Syrien, erklärt mir Sofiyah, die inzwischen ihr Kopftuch abgelegt hat. Sie habe einen schönen Garten mit Blumen, Pflanzen und Kräutern gehabt, um die sie sich täglich gekümmert habe. Mir ist klar, warum sie so viel Liebe in dieses Zelt gesteckt hat: Diese zwei oder drei Quadratmeter sind alles, was sie noch besitzt. Hier trinkt sie mit Gästen und Freunden Tee, hier isst sie zu Abend, hier machen ihre Kinder Hausaufgaben, hier schläft die ganze Familie. Sie haben zwar ihre ganzen Besitztümer in ihrer Heimatstadt Derika zurücklassen müssen, doch ihre Würde haben sie sich erhalten. Und sie haben sich aus dem Wenigen, was ihnen als Hilfeleistung gegeben wurde oder sie sich selbst gekauft haben, ein kleines Zuhause geschaffen.
Ich trete wieder aus dem dunklen Zelt in die grelle Sonne, die mich wie ein Schlag trifft. Hier stehe ich nun, tausende Kilometer entfernt von meiner Heimat, hunderte von meinem zweiten Zuhause Amman, in einem Flüchtlingslager eines Volkes, das ich eben erst kennengelernt habe, in einem Land, in dem ich noch nie zuvor war. Und trotzdem kommen mir das Zuhause von Sofiyah oder der Schulbus voller Kinder, die ich fotografiert habe, nicht fremd vor.
In Syrien sind diese Menschen mit einer facettenreichen Identität aufgewachsen: Syrer, Kurde, Muslim, Frau, Mann, aus Aleppo, aus Qamishli. Dort wurden sie teilweise unterdrückt, ihre Sprache in Schulen verboten, hier im Irak leben sie jetzt als Flüchtlinge. Ihre Situation könnte kaum komplexer sein, und doch merke ich – auch sie suchen nur ihren Platz in der Welt.