Palästina - die stille Form des Protests

Ein Stück der Mauer - von Israelis meistens "Sicherheitszaun", von Palästinensern oft "Rassentrennungsmauer" gennant - in Bethlehem.

Das Wort Israel wird in Jordanien nicht in den Mund genommen. Man spricht hier nur von Palästina. „Warum sollte ich es Israel nennen?“, fragte ein jordanischer Taxifahrer, als ich ihn darauf ansprach. Seine Familie stammt ursprünglich aus Khalil, Hebron, südlich von Jerusalem im Westjordanland. Der Name Israel verleihe dem Staat Legitimität, und diese habe er nicht.

Ihn nicht auszusprechen ist eine stille Art des Protests.

Das hat mich überrascht. Die emotionale Reaktion, die die Menschen hier in Jordanien – ob Palästinenser oder nicht – auf Israel, den Nahostkonflikt und Palästina haben, war mir komplett fremd. Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, ein Flüchtling zu sein, dem das Recht, in sein Heimatland zurückzukehren, verwehrt wird. Auch weiß ich nicht, was ein starkes nationales Empfinden wirklich bedeutet oder wie es sich anfühlt, eine gespaltene Identität zu haben.

Vielleicht weil mein Zuhause sicher und stabil ist oder weil uns als Deutsche seit dem Zweiten Weltkrieg ein starker Nationalstolz abgewöhnt wurde, war ich stets neutral, fast desinteressiert, gegenüber dem Konflikt um das Land und den Fragen der Identität.

Zwar habe ich nicht lange genug in Deutschland gelebt und deutschsprachige Medien gelesen, um zu merken, wie einseitig die Palästinenser und der Nahostkonflikt dort dargestellt werden. Dennoch wurde mir bewusst, dass meine deutsche Herkunft doch meine Sicht auf Palästina beeinfluss hat. Wie wahrscheinlich den meisten Deutschen kamen mir bei dem Wort Palästina zuerst „Nahostkonflikt, Hamas, Flüchtlingslager“ in den Sinn.

Es ist fast tragisch, wie irreführend das ist.

Vor meiner Zeit in Jordanien rief Palästina in meinen Gedanken Gefahr hervor. Doch die überwältigendste Bedrohung verspürte ich nicht von der palästinensischen Bevölkerung, sondern vom israelischen Militär ausgehend, als ich zum ersten Mal die von Israel gebaute Mauer sah, die die palästinensische Bevölkerung des Westjordanlandes von Jerusalem trennt. Aus acht Meter hohen Betonplatten gebaut, schlängelt sich diese Abgrenzung über die rollenden Hügel Palästinas.

Als fünfundzwanzigjährige bin ich zu jung, um wirklich zu verstehen, wie groß der Schmerz der Trennung Deutschlands durch die Berliner Mauer war. Doch in den Gesichtern meiner Eltern spiegelte er sich deutlich wieder, als sie die israelische Mauer sahen. Mit meiner Mutter ging ich langsam ein Stück der Mauer in Bethlehem entlang, an dem die Wachtürme lange Schatten auf die Graffitikunstwerke auf der Mauer warfen. Neben Werken vom Künstler Banksy waren einfache Nachrichten junger Palästinenser auf die Mauer gesprüht, die sich nach Jerusalem und dem Land hinter dem Zaun sehnen.

Zum ersten Mal wurde mir klar warum Bilder der al-Aqsa-Moschee und des Felsendoms in Jerusalem die Wände von etlichen Läden und Bäckereien, Metzgereien und Supermärkten in Amman zieren: Für die meisten Palästinenser östlich der Mauer ist die Hoffnung, die drittheiligste Stadt ihres Glaubens zu betreten, aussichtslos.

Noch nie habe ich eine so starke Militärpräsenz erlebt: Wachtürme, Panzer, Soldatinnen, jünger als ich, mit automatischen Waffen an Checkpoints. In Palästina wurde mir klar, wie eine Besatzung aussieht. Doch zwischen den Stacheldrahtzäunen erstreckt sich ein Land, eine Kultur, die vor Kreativität, Schönheit und Lebensfreude nur so strotzt.

In Taybeh, einem christlichen Dorf nahe der Hauptstadt Ramallah, wird in einer kleinen Lagerhalle das erste und einzige palästinensische Bier gebraut. Stolz erklärt uns die griechische Frau des christlich-palästinensischen Gründers, wie Hopfen aus Bayern und Tschechen importiert werde, um den einzigartigen Geschmack des Taybeh-Biers zu produzieren. Trotz religiösem Konservatismus und Straßensperren produziert die Brauerei seit zwanzig Jahren Bier, das in den Bars von Ramallah und Bethlehem verkauft wird.

Taybeh Beer, die erste und einzige palästinensische Brauerei, im christlichen Ort Taybeh ausserhalb Ramallah.

„Es ist unsere Form des stillen Protestes“, erzählte Frau Khoury. „Wir lieben dieses Land, wir wollen in dieses Land investieren und wir sehen hier eine Zukunft.“

Optimismus und Vitalität wie die ihren finden sich auch in Ramallah, der Hauptstadt des Westjordanlandes, wieder. Hier dreht sich das Leben nicht um die Besatzung. Morgens erfüllt der Duft von frischgebackenen Brötchen und aufgeschnittenem Obst die Straßen, Frauen mit buntem Kopftuch oder auch ohne schlendern Einkaufsalleen herunter, in den schicken Bars und Restaurants vergnügen sich junge Palästinenser und, so habe ich gehört, auch Israelis.

Es scheint, als hätte sich das Leben hier zwischen den grünen Lichtern der Minarette und den Glockentürmen der Kirchen in ein friedliches Equilibrium eingependelt.

Im 35 Kilometer entfernten Nablus sind die offenen Wunden der Besatzung dagegen viel deutlicher. Inmitten der architektonisch wunderschönen Altstadt, in der etliche Zivilisationen ihre Spuren hinterlassen haben, spürt man den Schmerz der zweiten Intifada.

Die Altstadt von Nablus.

Nablus war der größte Brennpunkt in dem gewaltsamen Konflikt zwischen Palästinensern und dem israelischen Militär, der von 2000 bis 2005 stattfand. Palästinenser aus Nablus wurden für viele der Selbstmordattentate in Israel verantwortlich gemacht. Hunderte starben und tausende wurden in der zweiten Intifada verletzt. Es wird gesagt, dass ein Drittel aller Männer aus dem Balata-Flüchtlingslager, direkt neben Nablus, in den letzten zehn Jahren mindestens einmal in einem israelischen Gefängnis saßen.

Dass so etwas nach nur wenigen Jahren nicht vergessen ist, ist verständlich. Zum Freitagsgebet im Zentrum des Ortes sah ich, wie Fahnen mit Sprüchen über die Befreiung von palästinensischen Gefangenen und Poster ihrer Gesichter aufgehängt wurden. In einem See aus Gelb und Grün reihten sich die Männer auf und beteten in Richtung Mekka.

Am schwierigsten war es mit anzusehen, wie die palästinensischen Bewohner von Khalil, Hebron, von der Militärbesatzung Israels betroffen sind. Inmitten der Altstadt leben über 4,000 jüdische Siedler, die von rund 1,000 Soldaten bewacht werden, wurde uns gesagt. Ein älterer Palästinenser, Hashem, zeigte uns seine Nachbarschaft, in der die Läden durch die Soldaten geschlossen wurden und Straßen für Palästinenser gesperrt sind.

Ein israelischer Wachturm ragt über die Häuser Khalils (Hebrons), auf deren Wänden die palästinensische Flagge gemalt wurde.

Es brach mir das Herz zu sehen, mit welcher Leichtigkeit und Nonchalance sein zehn-jähriger Sohn durch den von fünf Soldaten bewachten Checkpoint ging, um die Nachbarschaft zu verlassen. Für kein Kind sollte so etwas zur Normalität werden. Im seinem Wohnzimmer, wo uns seine Frau Tee und Kekse anbot, erzählte uns Hashem von den täglichen Hürden, der Aussichtslosigkeit, einen Job zu finden, der Gewalt und der Angst.

„Sie wollen uns das Leben so schwer machen, dass wir freiwillig unser Land verlassen“, sagte Hashem.

Meiner Mutter liefen Tränen das Gesicht herunter, als wir das Haus verließen.

Mir war klar, ich hatte noch so viel zu lernen. Ich hatte nicht mehr als einen flüchtigen Einblick in den Nahostkonflikt bekommen, und jede Sicht der Dinge ist anders. Natürlich steckt hinter jeder Soldatenuniform und jedem mit Steinen werfenden Jugendlichen ein Mensch.

Mir fielen die Worte des palästinensischen Professors und Politikers Sari Nusseibeh ein, der in seiner Autobiographie schrieb: „Waren nicht beide Konfliktparteien so auf ihre je eigene Tragödie fixiert, dass sie einfach vergaßen oder nicht hören wollten, was die andere Seite zu erzählen hatte? Ist diese Unfähigkeit, sich das Leben der „anderen“ vorzustellen, nicht der Kern des israelisch-palästinensischen Konflikts?“

Für mich ist das der Anfang des Versuchs, die Identität der Palästinenser zu erkunden. Von Jordanien bis nach Ramallah, von Nablus bis Jerusalem und von Khalil bis Tel Aviv – mir scheint es, die Ansichten und Erfahrungen der Palästinenser könnten nicht unterschiedlicher und facettenreicher sein. Für jeden nimmt der Protest eine andere Form an.

Und doch verbindet sie ein innerer Zwiespalt zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Heimatland und Staatsbürgerschaft, der Wunsch nach einem Zuhause.

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