Vergessen und Erinnern - Der Zwiespalt auf der Stuttgarter Bühne
Zwischen Demenz und der NSA-Abhöraffäre - wollen wir vergessen oder uns erinnern? Dieser Frage geht Regisseur Jan Neumann im Stück «Die Stadt das Gedächtnis» nach.
Stuttgart (dpa/lsw) - Die runde Plattform in der Mitte des Theaters dreht sich wie eine tickende Uhr im Kreis. Mal schneller, mal langsamer verstreicht die Zeit. Die Bürger Stuttgarts umkreisen die Plattform, verloren in Alltagsgedanken über ihr Leben und ihre Stadt. Mehr und mehr Namen und Geschichten werden dem Publikum vorgestellt, die es sich gar nicht merken kann. Doch darum geht es - man soll vergessen.
Um das Vergessen und das Erinnern wollen, dreht sich die neue Stückentwicklung von Jan Neumann am Stuttgarter Schauspiel, die am Samstag uraufgeführt wurde. «Vergessen wollen, nicht vergessen können, vergessen müssen, Angst vor dem Vergessen, vor dem vergessen werden» sei das zentrale Thema, sagte der gebürtige Münchner der dpa. «Und dann diese seltsame Lücke, die das Vergessen ist».
Wie sehr das in unserer heutigen Gesellschaft eine Rolle spielt, wird dem Publikum schnell bewusst. «Wo schmilzt das hin, das Leben das da war?» fragt sich ein älteres Ehepaar im Bett. Sie haben Angst vor der Demenz, die langsam näher rückt. Der junge Student aber bangt und hofft, seine versehentlich gelöschte Semesterarbeit auf dem Computer noch zu finden. Im heutigen Google-Zeitalter gebe es kein Vergessen mehr, beruhigt ihn sein Freund. «Es lässt sich alles nachprüfen».
Doch der wichtigste Protagonist des Stücks ist Stuttgart. Die Stadtführerin erzählt ausschweifend von dem Nesenbach, der Fluss an dem die Stadt ursprünglich gebaut worden ist und der jetzt unterirdisch verläuft. Der Stadtrat klagt von seinen jahrelangen Bemühungen, die Stadt für die Bürger zu gestalten. «Jeder einzelne Stein dieser Stadt ist ein Gedenkstein, der an unser Vergessen erinnert.»
Das Gedächtnis und die Stadt - diese Themen habe Neumann gegenüber stellen wollen. Auf der einen Seite «die Stadt als Speicher», die die Spuren jedes Bürgers verewige, jedes politischen Aktivisten sowie jedes Alltagskonsumenten. Auf der anderen Seite «das Individuum als Speicher der Stadt», die Bürger, die sich erinnerten, wie die Stadt einmal war.
Bei der Entwicklung des Stücks selber wurde vom Vergessen und Erinnern gebrauch gemacht. Zusammen mit den fünf Schauspielern habe Neumann diskutiert, recherchiert und improvisiert und so das Stück langsam geformt. Die Stadt Stuttgart war Inspiration und Wissensquelle zugleich: Bei Radtouren und Sitzungen des Ausschusses für Umwelt und Technik im Rathaus sei nachgeforscht worden. Die größte Herausforderung dabei sei die Zeit gewesen, sagte der Regisseur.
Stuttgart war zwar die Inspiration für das Stück, doch die Ideen sind universell. Die Angst vor dem Vergessen betrifft jeden. «Bei jedem Vorgang des Erinnerns wird das, was man erinnert, verändert», so Neumann. Somit würde man mit dem Erinnern Dinge aber nicht bewahren, sondern vergessen. Wie sehr unser Gedächtnis uns im Stich lässt, wird dem Zuschauer spätestens am Ende des Stücks bewusst: Noch während die Schauspielerin in ihrem Monolog an den Zweiten Weltkrieg erinnert, wird um sie herum die Bühne abgebaut. Schritt für Schritt wird das Theaterstück vergessen.
Veröffentlicht durch die Deutsche Presse-Agentur