Zwischen Belastung und Erleichterung - Syrer nehmen Verwandte auf
Von Lena Klimkeit und Gioia Forster, dpa
In Syrien wütet noch immer der Bürgerkrieg. Um ihre Familie in Sicherheit zu wissen, nehmen Syrer in Deutschland alles auf sich. Die Aufnahme von Verwandten ist Risiko und Erleichterung zugleich - und hat den Alltag vollkommen verändert.
Stuttgart/Karlsruhe (dpa/lsw) - Mohammad rollt zuerst den Gebetsteppich aus. Leise betet er in Richtung Mekka. Nacheinander kommen die anderen Familienmitglieder dran. Zusammen beten können sie nicht - dazu reicht der Platz in dem Zimmer der siebenköpfigen Familie aus Syrien nicht. Der Raum in einer vom Sozialamt gestellten Unterkunft in Stuttgart ist gerade groß genug für Stockbetten und eine Küchenzeile.
Yahia holte im Mai seine Verwandten aus dem Bürgerkrieg ins sichere Baden-Württemberg. Der 44-Jährige lebt seit 18 Jahren in Deutschland. Als er erfuhr, dass er über humanitäre Aufnahmeprogramme des Bundes oder der Länder ein Visum für seinen Bruder und dessen Familie in Damaskus beantragen kann, war ihm sofort klar: «Wenn den Betroffenen wirklich geholfen wird, dann müssen sie kommen - denn meine Familie ist betroffen, sie haben alles verloren.»
Das Stadtviertel zerstört, der Sohn ermordet - mit nichts außer ihren Kleidern und Pässen flüchtete die Familie in den Libanon, wo ihre Reise nach Deutschland vorbereitet wurde. Dass sie ein Visum und eine Arbeitserlaubnis bekommen haben, ist für Yahia eine große Erleichterung. Doch er hatte keine Ahnung, was für eine Belastung das auch für ihn und seine Familie bedeutete.
Seit ihrer Ankunft steht Yahias Leben auf dem Kopf. «Ich helfe gerne und ich habe geholfen», sagt der 44 Jahre alte Mann, Verzweiflung und Wut in seiner Stimme. «Ich kann ein paar Kilo tragen aber nicht die ganze Kiste - ich bin kein Staat.» Sein ganzes gespartes Geld hat er in die Flüge der fünf Verwandten von Beirut nach Stuttgart gesteckt. Und weil seine Verwandten kein Wort Deutsch sprechen, muss er sich um alles kümmern, hetzt vom Sozialamt zur Sprachschule, zu Ärzten. Das kostet ihn so viel Zeit, dass er seinen Job verlor.
Im 80 Kilometer entfernten Karlsruhe wird eine junge syrische Familie von ähnlichen Sorgen geplagt. Sie will ihren Namen nicht nennen - denn die Verwandten der 29-jährigen Studentin harren noch im nordsyrischen Aleppo aus. «Ich habe Angst, dass das Assad-Regime ihnen etwas antut», sagt sie besorgt. Jede freie Minute liest sie die Nachrichten, den Krieg bekommt sie nicht aus ihrem Kopf. «Es gibt keine Heizung, keinen Strom, kein reines Wasser, und jeden Tag fallen Bomben», erzählt sie. Ihre Familie werde nun von zwei Gefahren bedroht: vom Regime und von den Kämpfern des Islamischen Staats (IS).
Ein Trost ist, dass im Juli die Verwandten ihres Ehemanns dem Horror Aleppos entkommen konnten. Sie bekamen wie rund 770 andere Syrer ein Visum über das Landesaufnahmeprogramm in Baden-Württemberg. Doch dafür zahlt die junge Familie nun einen hohen Preis: Der 37-jährige Familienvater musste sich dazu verpflichten, alle Kosten für seine Angehörigen zu übernehmen. Anspruch auf Sozialleistungen haben sie nicht. Als Arzt hat der junge Syrer, der 2011 mit einem Stipendium nach Deutschland kam, zwar eine Halbtagsstelle in Karlsruhe. Aber nun muss er acht Personen durchbringen und zwei Mieten begleichen. «Die Situation ist sehr schwer», sagt er. «Meine Eltern wollen nicht, dass wir das alles bezahlen. Sie fühlen sich schlecht.»
Einerseits, betont sein 72-jähriger Vater. «Wir sind froh, hier zu sein und treffen viele herzliche Menschen.» Wäre die Familie länger in Syrien geblieben, wären sie Gefahr gelaufen, dass der 27 Jahre alte Sohn vom Militär eingezogen wird. Eine Situation zwischen Belastung und Erleichterung für den jungen Arzt - denn um das Minus auf seinem Konto zu begleichen, muss er Nacht- statt Tagesschichten schieben und auf Freizeit mit den vierjährigen Zwillingen verzichten.
Mit anzusehen, auf was Yahia, seine Frau und seine zwei Kinder in Stuttgart verzichten müssen, ist für die Verwandten aus Syrien ebenfalls nicht einfach. «Aber ohne ihn hätten wir das nicht geschafft», sagt seine Schwägerin Amal. Nach dem Leid in Syrien kamen sie und ihre Familie in Stuttgart zunächst für fünf Monate in einer Pension unter, die mit Ungeziefer übersät war. Das war das Schlimmste für die 45-Jährige. Auch die neue Unterkunft ist nichts im Vergleich zu einer eigenen Wohnung. Sie sehnt sich nach Privatsphäre - und Unabhängigkeit. Denn ob Gynäkologen- oder Zahnarztbesuch, ihr Schwager muss sie stets begleiten. Sie sagt: «Wir haben gelitten und leiden immer noch.»
Veröffentlicht durch die Deutsche Presse-Agentur